Die Abenteuer des Signor Gratton

Sperrstunde nach 33 Jahren – Rückblick auf ein kurioses Ford-Museum in Italien

Von Georg Michael Hofbauer (Text und Photos/Repros)

„Wollen Sie mit einem Auto fahren, dass Ihr Großvater gebaut hat?“, fragte Paolo Gratton Henry Ford II im Jahr 1969 in Rom. Unerschrocken, wie der Ford-Enthusiast, Sammler, Promotor aus Görz (Gorizia) war. Und Henry bestieg tatsächlich lächelnd das A-Modell aus 1930. Ein Moment, der Grattons Geist perfekt beschreibt. Nach dem Tod des technikbegeisterten Italieners im Jahr 2019 wird seine bemerkenswerte Sammlung aufgelöst. Ein Lokalaugenschein.

So viele Eingänge, Einstiege in die Geschichte des Phänomens Gratton scheinen möglich, doch wählen wir den eindeutig journalistischen Zugang: Mitten hinein in das Finale nächst der prachtvollen Stadt Görz. Die Tore zum Museum sind weit geöffnet, der rote Hallenboden schimmert in der späten italienischen Abendsonne etwas wehmütig. Viel Platz, doch nur noch rund 20 Autos in dem Gebäude an der Via Gorizia 150 in Friaul-Julisch-Venezien. Schnell bleibt der Blick an senkrecht aufragenden Fahrzeugen hängen, an einem Düsenjäger und es macht sich der Gedanke breit: Ford, warum ausgerechnet Ford? Selbst der Autor wurde milde belächelt, als er von dem späten Museumsbesuch in Oberitalien erzählte. Ja klar, Ferrari, Alfa Romeo, Fiat, Maserati. Solche Museen wollen wir in Italien sehen. Und besuchen. Aber Ford. Ausgerechnet dort, was soll denn das jetzt? Jedoch genau das scheinbar Widersprüchliche, das vermeintlich Uninteressante reizt den Spurensucher zuletzt immer mehr. Doch dazu später mehr.

Im Einsatz

„Die schönsten Autos der Sammlung sind nicht mehr hier. Wir haben die größten Attraktionen im Museum kurz nach dem Tod von Museumsgründer Paolo Gratton verkaufen müssen. Die Steuer. Wir mussten rasch die Steuern an den Staat abliefern“, schildert Ermanno Deghenghi, Feuerwehrmann aus dem nahen Gradisca, der die Aufräumungsarbeiten organisiert. Er ist damit auch abseits der Feuer-Brigade stets im Einsatz. Ermanno stand eine Zeit lang für einige Agenturen in Mailand vor der Kamera. Aus beiden Bereichen – sowohl aus den regionalen Feuerwehr-Einsätzen als auch aus seiner Karriere als Model – kann Ermanno Spannendes erzählen: „Die Mode-Szene in Milano war mir dann doch etwas zu verrückt, ich bin sehr gern wieder hierher auf das Land zurückgekehrt. Ermanno wickelt die endgültige Schließung des Ford Museums Gratton ab, das im Jahr 1987 gegründet wurde. Er organisiert den Verkauf, den Transport der seltenen bis seltsamen Exponate bis nach Schweden oder nach Sizilien.

Warum er? Wie kommt er dazu? „Ich bin ein Freund der Familie, ich habe viel Zeit im ‚Museo Gratton’ verbracht und mache das für die Witwe von Paolo“, erzählt Ermanno und lehnt sich mit verschränkten Armen vorsichtig an einen blaugrauen Ford Zodiac, der noch zentral in der Halle steht. Niemand sonst hätte in der Familie Interesse oder die Zeit für das Museum. Immerhin, die nahe Ford-Werkstätte Gratton wird von Paolos Nachkommen weitergeführt.

Inmitten der vielen riesigen Bildtafeln, den Motorrädern und Apparaten aus der technisch revolutionären Zeit des vergangenen Jahrhunderts schildert Ermanno, wie der markante Bau mit der Aufschrift „Ford Motor Company d’Italia“ entstanden ist: „Signore Gratton baute den Eingang zu den ehemaligen Ford-Werkshallen von Triest detailgetreu nach.“ Den Speicher des alten Hafens von Triest mit der Nummer 27.

Drehscheibe Triest

Ford/Italien/Trieste: Das ist der Pfad und der Schlüssel, um die Begeisterung von Paolo Gratton zu verstehen. Es war also deutlich mehr als eine seltsame Marotte eines schrulligen regionalen Ford-Händlers unweit des Isonzo-Tales. Denn im nahen Triest lag eine der Geburtsstätten für die Motorisierungswelle Europas. Das kann man durchaus behaupten, ohne zu übertreiben. Die Ford Motorcompany im Headquarter in Detroit erkor den damals bedeutendsten Adria-Hafen aus, um ab 1923 in Triest eine Produktionsstraße in Betrieb zu nehmen. Einzelteile des legendären T-Modells wurden über den Atlantik transportiert und am ersten italienischen Ford-Standort zusammengebaut. Von Triest aus wurde das T-Modell – auch Tin Lizzie („Blechliesl“) genannt –  in 30 Länder Europas und auch weit darüber hinaus geliefert. Dokumentiert sind Überstellungen in die vielen Balkanländer und in den Nahen Osten. Diese regionale Nähe des 1927 geborenen Gratton und seine Bewunderung für Henry Ford I war die Keimzelle für den vielleicht eigenartig erscheinenden Ford-Enthusiasmus in dieser von den Metropolen Italiens eher abgeschiedenen Provinz Gorizia. Immerhin hatte Ford die Serienfertigung für Automobile erfunden und auch erstmals in der Geschichte erfolgreich umgesetzt. Ein Meilenstein für die Fahrzeug-Industrie.

Grattons Autowerkstätte lief seit der Gründung 1949 beinahe wie von selbst. Oder besser – sie profitierte von der Beseeltheit Grattons für die Marke Ford. So baute er im Museum ein Ford-Montage-Band detailgetreu nach, um die Herstellungsmethoden in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts anschaulich zu machen. Gratton zersägte Modelle in der Mitte, um damit publikumswirksam durch die Stadt zu fahren. Er ließ Autos senkrecht in den Himmel ragen, um als Eyecatcher in der Stadt Görz zu fungieren. Das Ganze noch dazu „fahrbereit montiert“ auf einem weiteren Ford 12M. Mit verstärkten Blattfedern an der Hinterachse, das versteht sich. Signor „Ford“ Gratton war eine Berühmtheit in der Region, ein Entertainer und Marketing-Genie gleichzeitig. Auch die nicht so ganz erfolgreiche einzige Eigenkreation von Ford Italia, den Ford Anglia Torino (gebaut von 1963 bis 1967), bewarb Gratton auf diese Weise. Ebenso den ersten Ford Escort, jenen mit dem markanten Hundeknochen-Kühlergrill. Paolo Gratton nahm das M in den vielen Typbezeichnungen von Ford Köln sehr ernst. M stand für Meisterstück.

Faszination Frontantrieb

Eine besondere Herausforderung für den aufgrund einer Augenschwäche stets mit dunkler Sonnenbrille auftretenden Gratton war es, die Vorzüge des Vorderradantriebes bei Ford zu promoten. Schließlich war der 12M, der intern P 4 genannt wird und ab 1962 gebaut wurde, der allererste Ford mit Vorderradantrieb. Die Vorteile dieser kompakten Antriebseinheit von Motor und Getriebe und vor allem den Wegfall der schweren Kardanwelle wollte Gratton auf seine Weise dem Publikum zeigen. Dazu beschloss er das Durchsäbeln eines viertürigen roten 15M gleich hinter den Frontsitzen. Eine aufwändige Technik ließ dann Vorderwagen und Heck seitlich verschwenken, praktisch völlig aus der Spur laufen und das Fahrzeug blieb trotzdem fahrtauglich. Natürlich nicht ganz TÜV-gemäß.

Zurück zu den Entertainer-Fähigkeiten von Paolo Gratton: So täuschte er in den Siebzigern quasi ein autonom fahrendes Auto vor, indem er sich selbst im Kofferraum im Heck zusammenkauerte, alle Steuerungselemente nach hinten verlegte und über Monitore und Funkgeräte durch die Straßen von Görz fuhr. Ein Ford 20M ohne sichtbaren Fahrer am Volant. Bewältigt mit der doch eher bescheidenen Monitor- und Kamera-Qualität aus den Siebzigern. Eine Heldentat. Ein Meisterstück.

Die regionalen Zeitungen – und auch darüber hinaus – berichteten großformatig von den spektakulären Tüfteleien und kühnen Autofahrten. Die Ford-Umsätze waren bemerkenswert und wurden vom Konzern honoriert. Schon 1964 wurde Signor Gratton von Ford als erfolgreichster Händler Europas geehrt.

Was für eine Fiesta…

Noch ein Bonmot aus der stets dampfenden Marketing-Küche Grattons: Sieben friulanische Weinbauern, allesamt Brüder entschlossen sich, bei Signor Gratton gleichzeitig sieben – ja SIEBEN – Ford Fiesta zu bestellen. Die Auslieferung wurde sorgsam zelebriert und dokumentiert. Was für eine Fiesta für das Marketing-Genie Gratton, dem es ein Leben lang glänzend gelang, seine Ideen dem Publikum anzubieten. Das Foto in Poster-Größe ziert auch in den letzten Stunden des Museums noch eine Wand.

Doch nicht nur Autos, jedwede Technik fand die Begeisterung von Gratton: So baute er beispielsweise die Geräte von Erfinder Nicola Tesla nach, um die drahtlose Übertragung von Elektrizität sichtbar zu machen. Auch Morses Telegraphen und die Funk-Apparatur von Nobelpreisträger Guglielmo Marconi.

Viel war Paolo Gratton in der Werkstatt, sehr viel in seinem Museum, er schraubte und tüftelte. Zuletzt führte er noch mit mehr als 90 Jahren Besucher durch seine Welt. Aufrufe an Sammler oder gar an die Ford Motor Company, die gesamte Sammlung nach seinem Ableben zu erhalten, verhallten ohne Resonanz. Ein Kapitel der Automobilgeschichte wird geschlossen.

Bildtext zum Foto/Repro mit Mann im Kofferraum:

  • Signor „Ford“ Paolo Gratton bei seinem spektakulären Versuch, einen Taunus 20M vom Kofferraum aus zu steuern. Die Simulation eines autonom fahrenden Autos gleichsam. Mit der Video-Technik der Siebziger durchaus ein Meisterstück.
  • Der Sammler und Technik-Fan sorgte Jahrzehnte lang für Spektakel, Aufsehen rund um die Stadt Görz in Friaul-Julisch-Venetien. Das Publikum zeigte sich dankbar, die Verkaufszahlen der Autos mit der blauen Ellipse waren außergewöhnlich hoch für Italien. Für Paolo Gratton war Ford eine regional verankerte Welt-Marke, da im nahen Triest ab 1923 die T-Modelle für Europa zusammengebaut wurden.

Paolo Gratton 1927-2019

Die Werkstatt Gratton wurde 1949 eröffnet und besteht nach wie vor.

Das Ford-Museum in Görz/Gorizia (Italien) bestand knapp 33 Jahre

Es beherbergte rund 60 Automobile einen Kampfjet, Dutzende Motor- und Fahrräder

Sowie gut tausend Apparate: Radios, Schreibmaschinen, Funkgeräte

1964 wurde Paolo Gratton die Auszeichnung als erfolgreichster Ford-Händler außerhalb der USA verliehen. Er versorgte jahrzehntelang ganz Friaul-Julisch-Venezien mit Ford-Autos: Vom Anglia bis zum Zodiak.

>> Diese Reportage erschien auch in der Print-Ausgabe der Austro Classic, Ausgabe 2/2021.

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Veröffentlicht von gmhofbauer

Zeitzeuge aus der Werkssiedlung. Langweiliger alter Kobold, der auf seine Bedeutungslosigkeit starrt. - Folletto Vecchio - Absolvent der Low School zu Len Cing - Mitglied der Irony Academy Kapfenberg - Seit 2014 beheimatet in Saint Doute - Fan von E-Motion, E-Cloa Es wird nicht mehr anders.

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